Wieviel Kunst steckt in guter Werbung?

Was kann man als engagierter Unternehmer von 130 Jahre alten Plakaten lernen? Eine ganze Menge, wenn man die Werke von Henri Toulouse-Lautrec studiert, die vor Kurzem im OÖ Landesmuseum in Linz ausgestellt waren.

Als Unternehmer fragt man sich immer wieder, wie man für seine Produkte und Dienstleistungen die passende Zielgruppe erreichen kann. Dazu kann man sich natürlich mit den vielen Marketingtheorien beschäftigen – oder einfach die Plakate von Toulouse-Lautrec betrachten. Anlässlich der Ausstellung können wir sehen, wie das qualitätvolle „Anderssein als der Mainstream“ eine einzigartige Innovation darstellt.

Führung von Günther Matern durch die Ausstellung im OÖ Landesmuseum

Alte Meister – neues Denken
Paris 1891: Ein kleinwüchsiges Zeichengenie mit adeligen Wurzeln gestaltet das erste Plakat für eine soeben eröffnete „Event-Location“, das Moulin Rouge. 129 Jahre später gibt es dieses Plakat immer noch und es hängt im OÖ Landesmuseum.

Warum sollen wir uns eigentlich uralte Plakate ansehen, wenn wir doch Aufmerksamkeit am Puls der Zeit erreichen wollen? Und warum sollen wir überhaupt Plakate im elitären Ambiente eines Museums studieren, wenn wir doch die Menschen auf der Straße erreichen wollen? Im Fall von Toulouse- Lautrec gibt es EINEN sehr triftigen Grund: Er hat mit seiner Begabung für reduzierte plakative Bildauffassung die Wahrnehmung von Plakaten nachhaltig verändert. Und zwar so dramatisch, dass die Erkenntnisse daraus noch heute relevant sind.

EINE Frage ist dabei immer ganz besonders interessant: Was hat dieser Künstler so anders gemacht als andere, dass seine Arbeit so großes Aufsehen erregt hat? Und was war es, dass dieses Anderssein nicht zu seiner Steinigung, sondern zum Erfolg geführt hat? 

Darf Kunst Werbung sein?
Warum spreche ich als Grafik-Designer und Markenberater eigentlich so selbstbewusst über einen Helden der Kunstgeschichte? Weil das bereits eine ganz besondere Alleinstellung des Werkes von Toulouse-Lautrec darstellt: Er galt zwar als herausragender Zeichner und talentierter Künstler, aber seine gefeierten Arbeiten waren keine musealen Objekte sondern profane Plakate.  Also angewandte Gestaltung für Aufträge von Unterhaltungs-Unternehmern, die über ihre Veranstaltungen informieren wollten. Und Toulouse-Lautrec hat das auf so eigenständige Art gemacht, dass die Werke Gesprächsthema in ganz Paris waren. Das Medium Plakat gewann eine derartige Popularität, dass die angewandte Gestaltung wiederum Kunstanspruch bekam. Die Menschen entwendeten sogar die Plakate von der Straße – und heute hängen die „Werbeplakate“ von damals im Museum. 

Der Weg zur Kunst.
Um die Bedeutung Toulouse-Lautrecs zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Historie. Wir gehen zurück zum auslaufenden 19. Jahrhundert, die Kunstgeschichte nennt diese Epoche Spätimpressionismus. Van Gogh ist Vertreter davon, auch Edgar Degas oder Manet. 

Paris war zu dieser Zeit das künstlerische Zentrum der Welt, der Eiffelturm wurde soeben fertiggestellt. Der Montmartre, ein ländlich wirkender, etwas außerhalb gelegener Stadtteil, zog die vielen Künstler magisch an. Ein Atelier lag neben dem anderen, es gab künstlerische Befruchtungen und Rivalitäten, Freundschaften und Feindschaften. Am Montmartre pulsierte das Leben – kein Wunder, dass auch das Nachtlokal Moulin Rouge in diesem Viertel erfolgreich seine Pforten öffnete.

Paris, Place du Tertre, Montmartre um 1900

Toulouse-Lautrec, ein Adelsspross Mitte 20, befreundet mit Vincent Van Gogh, hing in den Cabarets und Tanzlokalen herum und zeichnete mit genialer Bild-Erfassung das Milieu des damaligen Paris. Seine kränkliche Natur hatte ihn schon als Kind in viele Sanatorien gebracht. Vielleicht aus Langeweile hatte er schon dort viel gezeichnet und man wurde auf sein Talent aufmerksam. Ein Sturz mit 14 Jahren, bei dem seine porösen Oberschenkelknochen brachen, ließ ihn kleinwüchsig bleiben. In Paris wurde später das legendäre Absinth-Glas zu seinem regelmäßigen Begleiter und letztlich war es seine Alkoholkrankheit, die ihn 1901 mit nur 37 Jahren sterben ließ. Aber in nur 10 Jahren erarbeitete er, was uns noch heute beschäftigt. 

Was können wir lernen?
Besonders fällt die ausgesprochen lebendige, routinierte und treffsichere Strichführung des Zeichners Toulouse-Lautrec auf. Mit wenigen Strichen porträtierte er die Gesichter in seinem Umfeld. Genauso wie die Stars auf seinen Plakaten. Die feingliedrige Zeichnung der Gesichter steht in spannungsreich, attraktivem Kontrast zu den äußerst flächigen Körpersilhouetten. Wir sehen ungegliederte Flächen in Schwarz oder in kräftigen Farben – keine Details, keine Verzierungen, nur eingehüllt in eine gekonnte Kontur. Dazu noch die einzigartige Schriftgestaltung, die ein wesentliches Merkmal eines Plakates ist. Bildgestaltung und Schriftelemente nehmen bei der Komposition seiner Werke behutsam aufeinander Rücksicht. Seine Gestaltung schuf Raum für den Text.

Einzelne Plakate zeigen jedoch auch Schriftanwendungen, die recht rücksichtslos über das Motiv laufen. Ein deutlicher Hinweis, dass der Auftraggeber im Nachhinein Textelemente vom Drucker hinzufügen ließen – ohne Rücksicht auf das Motiv und den spannungsvollen Freiraum. Das ist nicht selten auch heute noch ein Konfliktpotential zwischen Auftraggeber und Gestalter.

Der Mainstream und das Anderssein.
Um die Bedeutung seiner innovativen Leistung zu verstehen, muss man die Bildauffassung zur Zeit Toulouse-Lautrecs betrachten. Englische Theaterplakate von 1884 zeigen den dramatischen Unterschied. In sehr detailgenauer und naturalistischer Art zeigen die Plakate mehrere Szenen aus dem Theaterstück. Wie ein Comic-Vorspann werden die Bilder aneinandergereiht und wollen einen Eindruck von dem Stück vermitteln, um es damit zu bewerben. Sehr erzählerisch, detailliert, naturnah und realistisch.

Ein Zirkusplakat – etwa 10 Jahre früher, um 1870 – zeigt eine noch rudimentärere Bildauffassung. Bild und Text werden im Stil einer Zeitungsgestaltung angeordnet. Sachlich und textlastig.

Demgegenüber muss das Plakat „Aristide Bruant“ von Toulouse-Lautrec ein visueller Knalleffekt gewesen sein. Nichts Erzählerisches, keine einzelnen Szenen, keine naturgetreuen Kostüme, dagegen kräftige Farben, grob reduzierte Flächen ohne Details, sparsamer Hintergrund – und dennoch das erkennbare Porträt des Veranstaltungsstars. Aristide Bruant in seinem Cabaret. Quasi ein Plakat wie heutzutage für Helene Fischer, die in der Wiener Stadthalle auftritt.

Toulouse-Lautrec nahm alles Erzählerische weg. Übrig blieb ein Plakat, das in größter und kunstfertiger Reduzierung eine plakative Aufmerksamkeit erzielt, die den Mainstream förmlich vernichtet.

Es ist nicht nur die zeichnerische Umsetzung, die beeindruckt, sondern vor allem seine revolutionäre Bildauffassung. Der Mut zur leeren Fläche, die Entschiedenheit zur Detaillosigkeit. Und dennoch an der richtigen Stelle die notwendige (Porträt-)Genauigkeit. Ein Wechselspiel von brutaler Flächigkeit und gefühlvoller Strichführung.

Zeitloses Design: Ein Experiment
Zur Veranschaulichung seiner zeitlosen Gestaltungskraft nun ein Experiment: Man nehme das Originalmotiv von Toulouse-Lautrec, reduziere den vergilbten Hintergrund auf eine reine, weiße Papierfarbe, ersetze die handschriftliche Typografie durch eine zeitgemäße Druckschrift und zum Schluss füge man noch eine heute für Kulturplakate unumgängliche Sponsorenleiste hinzu.

Das Ergebnis: Eine überzeugende Plakatgestaltung, die auch im 21. Jahrhundert in ihrer plakativen Aufmerksamkeitswirkung relevant ist. Erdacht und gezeichnet vor 129 Jahren! Beeindruckend. 

Zusammenfassung:

  • Mit den Plakaten von Toulouse-Lautrec treffen wir auf in der Kunstgeschichte relevante Werke, die eigentlich angewandte Gestaltung, also Werbung, sind.
  • Ein körperlich beeinträchtigter Künstler bricht mit hoher zeichnerischer Fähigkeit aus der Bildauffassung seiner Zeit aus und wird damit ein Pariser Star.
  • Die massive Reduzierung auf flächige Farbformen, der Mut zur Freiheit ohne Details und der gefühlvolle Kontrast zur lebendigen Strichführung an den richtigen Stellen machen die wegweisende Innovation aus.
  • Das visuelle Denken von Toulouse-Lautrec ist so modern, dass daraus noch heute relevante Plakate entstehen können – rund 130 Jahre später.
  • Was ist heute der Mainstream der Plakatwelt? Wie würde Toulouse-Lautrec heute die Bildauffassung auf den Kopf stellen, die nicht zum Skandal, sondern zum Erfolg führt?
  • Bei Toulouse-Lautrec sehen wir: Aufmerksamkeit erfordert denkerische Vision, mutige Konsequenz und handwerkliche Brillanz.

Weiterführende Links:
» Fast alle Gemälde und Plakate von Toulouse-Lautrec finden Sie in schöner Bildqualität bei kunstkopie.de https://www.kunstkopie.de/a/de-toulouse-lautrec-henri.htmlpgn_page=2&INCLUDE=LIST&pgn_items=100

» Weitere Details über seine Biografie zum Beispiel bei Wikiart: https://www.wikiart.org/de/henri-de-toulouse-lautrec

» Der Artikel ist Teil meiner Vorlesung „Geschichte des GrafikDesign“ an der Kunstuniversität Linz im Studiengang Visuelle Gestaltung. Mehr darüber hier: https://www.ufg.at/Bachelorstudium-Grafik-Design-und-Fotogr.1570.0.html

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